Interview mit Prof. Oliver Riedel und Prof. Alexander Verl, ISW

„Wir machen Unternehmen schnell“

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, das Thema Software Defined Manufacturing auf die Agenda zu nehmen?

Alexander Verl: Wir haben vor fünf oder sechs Jahren das erste Mal drüber gesprochen, wie man rekonfigurierbare Werkzeugmaschinen bauen könnte. Meistens werden ja mechanische Module entwickelt, aus denen dann eine kundenspezifische Maschine entsteht. Wir haben allerdings gedacht, dass die Hardware immer gleich bleiben müsste und dass man dieses Umstellen an die Anforderungen des Kunden oder des Prozesses über Software realisieren können sollte. Das war damals unser erster Gedanke und als dann gleichzeitig der digitale Zwilling populär wurde, haben wir neben Veröffentlichungen zum Thema auch einen Exzellenzcluster-Antrag gestellt.

Oliver Riedel: Außerdem gab es ja für dieses Thema ‚Software Defined X‘ durchaus erfolgreiche Projekte, natürlich vom Lösungsraum signifikant weniger komplex als in der Produktion. Nehmen Sie das Beispiel Software Defined Radio. Früher hat ein Auto zwei oder drei Antennen gehabt: Radio, GPS und Mobilfunk. Heute wird das per Software Defined Radio mit nur einer Antenne abgedeckt. Eine Hardware macht in kleinen Zeitscheiben nacheinander immer etwas anderes. Noch ein zweites Beispiel: Software Defined Network. Nur über Software wird definiert, welche Protokolle und Dienste über die Kabel laufen. Entsprechend haben wir in der Wissenschaft festgestellt: so unmöglich ist das für die Produktion gar nicht, das ist nur ein Dimensionsproblem und es gibt ja bereits Vorarbeiten. Die Philosophie bleibt die gleiche.

Muss in der Industrie mehr harmonisiert werden? Im Auto ist es ja einfach, da ist nur ein Hersteller, der für sich alles koordinieren kann.

Riedel: Da täuschen Sie sich. Der Autohersteller stellt spitz formuliert nur das gebogene Blech und vielleicht den Motor her. Er kann auch eine Antenne einbauen, aber da ist sein Einflussbereich komplett beendet. Über welchen Funkstandard Daten in seinem Auto ankommen, GPS, DAB-Radio, 4G, 5G, was auch immer, darauf hat er keinen Einfluss. Der Systemgedanke, der dahintersteckt, erfasst mehr als nur das Auto, mehr als nur Sendemasten oder Satelliten. Ich brauche alles. Ähnlich ist das auch bei der Produktion. Ich brauche den Anlagenhersteller, ich brauche den Automatisierer, ich brauch sie alle dafür.

Nun kommen allerdings viele Beispiele für SDM aus der Autoindustrie. Ist das, weil das ISW hier in Stuttgart eng mit dieser Industrie verbunden ist oder weil Automotive generell besonders weit ist?

Verl: Ich glaube, dass die Autoindustrie in der Standardisierung schon viel geleistet hat. Da ist dann auch schneller die Erkenntnis da, dass man Software effizienter erstellen, anpassen und ausbringen können sollte. In der Automobilindustrie hat man ja auch lange Wertschöpfungsketten, eine arbeitsteilige Gesellschaft, die aber auf der anderen Seite nicht so besonders durchgängig ist. Man hat immer Liegezeiten und alleine diese Liegezeiten zu verkürzen, würde schon Fortschritt bringen.

Riedel: Außerdem: Der Automatisierungsgrad ist dort einfach schon sehr hoch. Wenn man sich die modernen Werke anschaut, ist im Grunde überall dort automatisiert worden, wo es etwas zu automatisieren gab. Man könnte vielleicht in der Montage noch mehr automatisieren, aber da, denke ich, sind die klassischen Methoden am Ende, sonst hätten sie das schon gemacht.

Wie sähe der Nutzen von SDM dann konkret aus?

Riedel: Die Automobilbauer können unglaublich gut Karossen hinstellen, also Blech biegen, zusammenschweißen, lackieren. Und dann gibt es Zulieferer, z.B. einen Leuchtenhersteller. Beides sind hochkomplexe dreidimensionale Produkte, natürlich jeweils mit Fertigungstoleranzen. Die sind im Prototypenbau so optimiert, dass alles zusammenpasst und dann kommt die Massenproduktion und hat ihre Streuung. Die Karossen haben Streuungen, die Leuchten haben Streuungen. Mit SDM gäbe es die Möglichkeit, dass das Produkt, die Leuchte, die Daten über die eigenen, ganz spezifischen Maße per Software in sich trägt. Und wenn der Karosse im Prozess der Karosserieherstellung auch softwaremäßig Referenzpunkte mitgegeben werden, dann kann ich, bevor ich die Sachen montiere, in der Simulation ein optimales Matching dieser zwei komplexen 3D-Geometrien erreichen und die richtige Leuchte mit der passenden Karosserie zusammenführen. Dann gibt es keine Nacharbeit, sondern das passt sofort. Dazu müssen die sowieso vorhanden Produktionsdaten, jeder macht ja Toleranzmessungen, gespeichert und in den Prozess transferiert werden können. Und jeder Hersteller muss diese Daten auch mit seinem OEM teilen wollen.

Gibt es auch andere Branchen, die sich für das Thema SDM interessieren?

Verl: Ich sehe derzeit noch die Luftfahrtindustrie, aber die machen es aus einer etwas anderen Motivation heraus. Generell gilt: Bei allen Fertigungsverfahren, die etwas komplizierter sind, die nicht in nur einem Schritt das Endprodukt erstellen, wäre es interessant. Es gibt ja Beispiele, aber das sind derzeit noch Insellösungen. Homag wird hier oft genannt, die haben es wirklich gut gemacht. Aber sie haben viele Dinge nur für sich entwickelt. Sie haben für hauseigene Tools hauseigenen Aufwand getrieben. Solche Firmen können also schon als Musterbeispiel dienen, aber das heißt noch lange nicht, dass das ein anderer Maschinenhersteller direkt nachmachen kann. Unsere Aufgabe als Forschung ist es nun, herauszufinden, was allen Projekten gemeinsam ist, und das dann zur Verfügung stellen.

Software Defined klingt sehr nach IT. Heißt das, dass die Automatisierer zu IT-lern werden müssen? Sollen sie Methoden wie Scrum und sonstige Sachen übernehmen?

Verl: Vielleicht nicht gleich Scrum, aber wir sind in der Fertigungsindustrie ja traditionell rund fünf bis zehn Jahre hinter dem her, was die Consumerindustrie macht. Dieser Rückstand impliziert dann automatisch, dass wir als Automatisierer eher von den Informatikern lernen, weil die einfach immer einen Schritt weiter sind. Die andere Frage ist natürlich, ob wir alles übernehmen müssen oder wollen. Unsere Maschinen sollen ja auch länger leben als so ein Handy, und auch die Ersatzteilhaltung wird ganz anders gehandhabt. Wir müssen nicht alles von der IT-Welt übernehmen, aber die spannenden Themen, die Befähiger wie Cloud-Mechanismen oder Kommunikationsmethoden, das bietet auch für uns noch viele Chancen.

Riedel: Man sollte einen Best Pick machen. Die Automatisierungstechnik weiß ziemlich genau, was sie sehr gut kann und weiß auch, wo Lücken sind. Zum Beispiel die Container-Technologie. Die ist schon ziemlich smart, das muss man einfach sehen. Aber die muss man anpassen: Der Umzug von Containern ist in der IT kein großes Problem, weil dort die Discontinuity auch kein Problem ist, solange keine Information verloren geht. In der Fertigung ist der Faktor Zeit aber ziemlich kritisch. Das heißt, wenn wir einen Container umziehen wollen, dann muss er wirklich nahtlos, also nicht nur ohne Informationsverlust, sondern auch ohne Zeitverlust weiterlaufen. Deshalb arbeiten wir gerade daran, die Container-Technologie echtzeitfähig zu machen.

Verl: Und natürlich gibt es Erkenntnisse oder Ergebnisse aus der Welt der Automatisierung, die dann auch wieder zurückschwappen in den IT-Bereich. Den Real Time Linux Patch z.B. würde ich durchaus als Errungenschaft der OT sehen und dieser nimmt nun auch Einzug in anderen Bereichen, die wiederum eher IT-mäßig geprägt sind.


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