Lapp nutzt den digitalen Zwilling im Design-Prozess

Effizienzgewinn von rund 30 Prozent

1. Finite-Elemente-Methode (FEM) ist ein allgemeines, bei unterschiedlichen physikalischen Aufgabenstellungen angewendetes numerisches Verfahren. Dabei handelt es sich um eine Festigkeitsuntersuchung von Körpern mit geometrisch komplexer Gestalt, weil sich hier der Gebrauch der klassischen Methoden als zu aufwändig oder nicht möglich erweist. Mit der FEM werden technische Auslegungen berechnet und überprüft, um kritische Stellen am Bauteil konstruktiv richtig dimensionieren zu können.

2. Berechnung der thermischen Belastung am Beispiel von M12 L. Durch den beengten Bauraum stellt die geforderte 16A Stromstärke eine extreme Herausforderung an das Bauteil dar. Wenn so viel Strom mithilfe bauartbedingt kleinster Kontaktflächen übertragen wird, entsteht Wärme, die im Steckverbinder beherrscht werden muss. Darum werden bei Lapp Neuprodukte digital berechnet, um eine sichere Auslegung gewährleisten zu können. Damit ist sichergestellt, dass die Produkte zuverlässig über die komplette Lebensdauer funktionieren. Auf diese Weise ist es möglich, Grenzbereiche sicher zu beherrschen und die hohe Leistungsdichte im kleinstmöglichen Steckverbindergehäuse unterzubringen.

3. 3D-Druck für erste Handling-Muster: Wenn alle Berechnungen und Simulationen abgeschlossen und in die Konstruktion mit eingeflossen sind, erstellt Lapp ein erstes 3D-Muster. Dabei handelt es sich um ein reales Muster, an dem Ergonomie, Bauraum und Design beurteilt werden können. Damit ist der Konstruktionsprozess vorläufig abgeschlossen und es beginnt der Prozess der Werkzeugkonstruktion, um die Serienwerkzeuge zur Serienproduktion zu planen und umzusetzen.

4. Füllsimulationen – Moldflow: Der auskonstruierte Steckverbinder muss neben seiner Funktion auch noch so aufgebaut sein, dass er prozesssicher herstellbar ist. Die Füllsimulation gibt Aufschluss über die Gestaltung der Werkzeuge für die Spritzgussteile und zeigt ebenfalls Optimierungen an, die gegebenenfalls am Produkt vorgenommen werden müssen. Ziel ist es, das Werkzeug im Vorfeld zu simulieren, um die Auslegung zu perfektionieren.

Martin Guserle: „Mit der Arbeit am digitalen Zwilling können wir heute genau ausloten, wo die maximalen Grenzen beispielsweise bei der Temperaturverteilung, dem Kontaktwiderstand und der Strombelastung liegen und überall das Optimum herausholen. Die Entwicklungsprozesse werden dadurch viel schneller, ressourcenschonender und preisgünstiger.“

Design-In Prozess beim Kunden

Die Kunden nutzen heute vermehrt digitale Portale, um ihre Maschinen, Anlagen oder Werkzeuge zu konstruieren. Zur Auswahl der geeigneten Steckverbinder werden immer öfter spezielle Datenbanken wie Zuken und Eplan genutzt, in denen mehr und mehr Hersteller gelistet sind. Auf diesen Plattformen erhält der Kunde alle Informationen zum Produkt inklusive der digitalen 3-D-Modelle – also den digitalen Zwilling zum eigentlichen Produkt. „Unsere Erfahrung zeigt, dass die Kunden fast nur noch Interesse am digitalen Zwilling haben und immer seltener nach physikalischen Mustern fragen. Das zeigt die Veränderung weg vom Produkt hin zu digitaler Information, weil diese beim Kunden direkt digital weiterverarbeitet werden kann“, weiß Martin Guserle.

Warum gehört dem digitalen Zwilling die Zukunft?

Der digitale Zwilling enthält deutlich mehr Informationen zum Produkt, als das bei einem physikalischen Produktmuster je möglich wäre. Diese gesammelten Informationen entstehen bei der Entwicklung und werden dann zum Design-In, das über den gesamten Lebenszyklus bis hin zum Recycling genutzt wird. Somit ist der digitale Zwilling die Basis für KI-Anwendungen. Diese könnten beim Steckverbinder eine Zustandsanzeige bis hin zur vorausschauenden Wartung möglich machen. Es ist bereits heute Realität, dass Produkte entstehen und weiterverarbeitet werden, die überhaupt noch nicht physikalisch erstellt wurden. Es ist außerdem absehbar, dass diese digitalen Komponenten und Systeme miteinander kommunizieren und sich gegenseitig weiterentwickeln. Der Steckverbinder ist aufgrund seines Einsatzortes und der baulichen Voraussetzung eine Komponente, die, mit mehr Intelligenz ausgestattet, zusätzliche Funktionen übernehmen kann.

Im Rahmen von Industrie 4.0 wurde der digitale Zwilling ursprünglich entwickelt, um Maschinen- und Anlagenbauern Effizienzpotenziale beim Engineering und der Fertigung zu ermöglichen. Nun Nutzen Sie ihn als Komponentenhersteller zum Design Ihrer Produkte. Wie kam es dazu?

Martin Guserle: Die Entwicklung eines Steckverbinders bedeutet immer auch eine nicht unerhebliche Investition. Durch die Digitalisierung werden uns sehr interessante Möglichkeiten an die Hand gegeben, die Effizienz hier deutlich erhöhen zu können. Wenn wir im Engineering-Prozess die Ausgestaltung eines Steckers nun weitestgehend vorausberechnen und simulieren können, ist dies eine große Hilfe. Im Fall des neuen L-kodierten M12 Steckverbinder war es für uns entscheidend, die kleinste auf dem Markt verfügbare Variante bei gleichzeitig hoher Leistung von 16A zu entwickeln. Dies war eine große, nicht einfach zu bewältigende Herausforderung, die wir erfolgreich gemeistert haben.

Bedeutet dies, dass Lapp jetzt bei der Entwicklung all seiner Produkte auf den digitalen Zwilling setzt?

Guserle: Noch handelt es sich nicht um einen formalisierten Prozess, der wirklich bei allen Entwicklungen angewandt wird. Wenn die Herausforderungen aber wie oben beschrieben derart groß sind, macht eine solche Vorgehensweise auf jeden Fall Sinn, da ansonsten der Trial&Error-Prozess zu zeit- und letztlich kostenaufwändig wäre. Ich bin davon überzeugt, dass der Gebrauch des digitalen Zwillings bei der Entwicklung im Hause Lapp immer mehr Einzug halten und detaillierter ausgestaltet werden wird. Denn die Anzahl der Produkte, die dem Kunden einen echten Mehrwert bieten und unsere Entwickler daher vor größere Herausforderungen stellen, wird zunehmen. Wir beschreiten diesen Weg allerdings nur da, wo es Sinn macht. Bei eher klassischen Entwicklungen ist dies nicht notwendig.

Können Sie ungefähr beziffern, um wie viel schneller Sie bei der Entwicklung mit dem digitalen Zwilling im Vergleich zum ‚herkömmlichen‘ Entwicklungsprozess waren?

Guserle: Ich würde den Effizienzgewinn auf rund 30 Prozent beziffern.

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