Forschungsprojekt Picasso

Forschungsprojekt Picasso

„Die Steuerungstechnik ist in der Cloud angekommen“

Begleitend zur Artikelserie über das Forschungsprojekt Picasso des ISW Stuttgart hatte das SPS-MAGAZIN zum Expertengespräch eingeladen und sprach dem Projektkoordinator Felix Kretschmer sowie den Projektpartnern Florian Holz, Sotec, und Christian Kircher, Bosch, über das Engagement bei Picasso und die bisherigen Ergebnisse.

Christian Kircher untersucht als Forschungsteamleiter bei Bosch neue Produkte und Systeme für die nächste Generation von Steuerungstechnik. Im Projekt Picasso vertritt er die Anwenderseite und prüft die Adaption der Cloud-Lösung auf die Werke von Bosch. (Bild: ISW)
Christian Kircher untersucht als Forschungsteamleiter bei Bosch neue Produkte und Systeme für die nächste Generation von Steuerungstechnik. Im Projekt Picasso vertritt er die Anwenderseite und prüft die Adaption der Cloud-Lösung auf die Werke von Bosch. (Bild: ISW)

Das Picasso-Forschungsprojekt zur Steuerungstechnik aus der Cloud geht in die Abschlussphase. Worin lag der Reiz für Bosch, vor drei Jahren als Partner in das Projekt einzusteigen, Herr Kircher?

Christian Kircher: Es ist quasi eine alte Weisheit, dass die Automatisierung immer mit einer gewissen Verzögerung von technologischen Entwicklungen aus dem IT- und Software-Bereich profitieren kann. Entsprechend hat sich für uns schon früh abgezeichnet, dass das Thema Cloud irgendwann auch in der Produktion ankommt. Aber es gab noch Fragezeichen, vor allem bei Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit. Kurz gesagt: Wir bei Bosch als Fabrikbetreiber wollten einfach wissen, was kommt da auf uns zu? Das Projekt Picasso bot hierzu eine gute Möglichkeit.

Herr Holz, welches waren denn die Beweggründe bei einem Mittelständler wie Sotec?

Florian Holz: Aufgrund meiner beruflichen Laufbahn beschäftige ich mich schon lange mit der Konvergenz von IT und Automatisierungstechnik und dem entsprechenden Zeitversatz. Auslöser für meinen Einsatz im Forschungsprojekt war die Möglichkeit, zu zeigen, dass die industrielle Cloud, die lange als fixe Idee abgetan wurde, durchaus funktionieren kann. Die heutige Wahrnehmung des Themas belegt: Es war richtig, diesen Schritt zu wagen. Gerade als Mittelständler, der Kompetenz aufbauen und sich im internationalen Wettbewerb behaupten will.

Und welche Rolle haben Sie und Ihr Unternehmen im Verbund des Projekts übernommen?

Holz: Auf unserem Tisch lagt die praktische Umsetzung: Die im Rahmen von Picasso entstandenen Demonstratoren sind ja kein theoretisches Projekt, sondern ein tatsächliches Produkt, bei dem Steuerungsinstanzen in der Cloud laufen ohne Logik-Hardware vor Ort. Hier konnten wir unsere breite technische Kompetenz einbringen.

Welche Vorteile gehen denn mit dem Wechsel von Steuerungslogik in die Cloud einher?

Kircher: In der durchschnittlichen Produktion gibt es heute schon moderne und vernetzte Maschinen. Aber genauso gibt es Anlagen, die zehn Jahre alt sind oder älter – die sind sozusagen noch Industrie 2.5 oder 3.0. Dadurch fehlt eine einheitliche Datenbasis, die jedoch für viele Industrie-4.0-Aspekte erforderlich ist. Die Cloud kann hier eine Lösung ohne System- und Technologiebrüche bieten. Weitere Vorteile aus Betreibersicht liegen in der Virtualisierung von Logik und Rechenleistung, aber auch in einer zentral verfügbaren Tool-Landschaft. Wenn man bedenkt, wie viele Steuerungs- und Engineering-Programme aber auch Betriebssysteme der Anwender über die Laufzeit einer Maschine vorhalten muss: Diese lassen sich viel einfacher in der Cloud vorhalten als auf Hardware-basierten Infrastrukturen vor Ort.

Holz: Bei Industrie 4.0 geht es im Endeffekt um Produktivitätssteigerung, die man durch interdisziplinäre Adaption erreicht. Mit IT-Ansätzen, hier konkret dem zentralen Vorhalten von Daten, kann man den immer komplexer werdenden Produktionsstrukturen entgegenwirken. Cloud-Umgebungen führen also zu mehr Sicherheit, aber auch zu mehr Nachweisbarkeit und Transparenz.

Felix Kretschmer: Es wird auch in der Industrie so kommen, wie man es von seinem Heim-PC kennt. Während man vor ein paar Jahren noch eine Diskette einlegen musste, um ein Update oder einen Treiber zu installieren, geschieht das heute automatisch und im Hintergrund. Entsprechend wird es Anlagenbetreibern in Zukunft ohne zentrale Daten- bzw. Systeminstanz nicht gelingen, den Überblick hinsichtlich der Aktualisierungen im Produktionsverbund zu behalten oder Updates übergreifend einzuspielen.

Ein wichtiger Aspekt der industriellen Kommunikation ist ja die Zykluszeit. Welche Geschwindigkeit konnten Sie denn beim Datenaustausch mit den Demonstratoren im Picasso-Projekt erreichen?

Kircher: Wir haben als Usecase für den Demonstrator keine High-End-Werkzeugmaschine genommen, sondern eine typische Montageanlage, die Feldbus-Zykluszeiten von ca. 10ms fährt. Das ist heute ohne Probleme machbar, wie das Picasso gezeigt hat. Auch Zeiten unterhalb der 10ms werden zukünftig kein Thema mehr sein. Bei einer klassischen Anlage ist dann im Zweifelsfall eher der SPS-Zyklustakt das limitierende Element.

Kretschmer: Natürlich kommt es auf die Bandbreite an. Aber selbst mit einer üblichen Internet-Anbindung, wie man sie zuhause hat, ist eine verlässliche Taktzeit von 30ms möglich. Entsprechend widerlegen die Ergebnisse im Projekt die oftmals geäußerte Befürchtung, dass unsere Netze nicht fit für die industrielle Cloud sind. Dennoch ist der Erfolg noch zu einem gewissen Grad prozessabhängig. Bei stark regelungsgeführten Prozessen, die deterministisch über die Cloud laufen, würde die Anlage in einen sicheren Zustand fahren, falls ein Datenpaket verzögert ankommt. Das wäre nicht tolerierbar. Aber mit Time-Sensitive Networking gibt es schon erste Ansätze, um auch diese Probleme in naher Zukunft zu lösen.

Und die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit des heutigen Internets ist ausreichend?

Kretschmer: Diese Frage ist losgelöst davon, ob es um eine Industrieanlage geht, oder um einen Server in der klassischen Office-IT. Wenn die Internet-Anbindung weg ist, kommt es heute bei vielen Unternehmen unmittelbar zum Stillstand. In jedem Fall müssen Betriebe also auf eine Redundanz der Anbindung setzen.

Kircher: Die erforderliche Absicherung über Redundanz wird in Zukunft sicherlich noch besser, z. B. über 5G, das Redundanz dann auch per Wireless sicherstellen kann.

Welches konkrete Potenzial sehen Sie für Bosch durch den Einsatz der Industrie-Cloud?

Kircher: Der Nutzen durch die Cloud ist allein in der Instandhaltung der Anlagen immens. Mit größerer Transparenz wissen wir um die Zustände der Anlagen, können aus der Ferne reagieren und müssen Änderungen an der Maschine nicht mehr vor Ort durchführen. Weiterhin ermöglicht die Cloud eine unkomplizierte Recherche von Softwareständen sowie die Rückverfolgbarkeit von Änderungen und Updates. Auch im Betrieb bietet sie großes Potenzial, denn wir behalten stets den genauen Überblick über den aktuellen Ist-Zustand der Anlagen, über deren Auslastung und den Ressourceneinsatz. So kann man mit der Cloud das komplette Werk optimieren und sogar entsprechende Rückschlüsse hinsichtlich des Energieverbrauchs ziehen.

Wie steht es denn um die Nutzerakzeptanz der

industriellen Cloud?

Holz: Bei der Antragsstellung des Projektes mussten wir den potenziellen Nutzen des Projektes noch verteidigen und sind damals von vielen Seiten belächelt worden. Inzwischen geht es in der Fachwelt aber gar nicht mehr um die Frage, ob die Steuerungstechnik in die Cloud wandert, sondern nur noch um das Wann und das Wie. Dieser grundlegende Wandel in der Wahrnehmung belegt aus meiner Sicht, dass wir wirklich am Beginn einer Revolution stehen.

Kretschmer: Noch 2012 wurde der entsprechende Antrag einer Forschergruppe bei der DFG mit der Begründung abgelehnt, dass die Cloud für die industrielle Steuerungstechnik in den nächsten Jahren keine Rolle spielen wird. Wenn man dem gegenüberstellt, welche Anbieter heute mit konkreten Lösungen auf dem Markt aktiv sind – z.B. Beckhoff oder Siemens – dann sieht man, wie unglaublich viel sich in den letzten vier Jahren getan hat. Diese Entwicklungen kann auch daran messen, wie hoch das Besucherinteresse z.B. auf Messen wie der SPS IPC Drives in Nürnberg mittlerweile ist.

Die Anwenderschaft ist also bereit für die Cloud?

Kircher: Es gibt ja verschiedene Cloud-Stufen – lokal, hybrid und klassisch im Internet – über die sich der Anwender sukzessive in diese Welt vortasten kann. Letztendlich wird es aber auf absehbare Zeit sicherlich noch eine Philosophiefrage bleiben, ob Cloud oder lokale SPS, und die Steuerung wird vermutlich nicht in jeder Anwendung in die Cloud wandern. Aber es wird auf jeden Fall kommen, dass die erfassten Daten zentral irgendwo zusammen laufen.

Holz: Ich glaube auch nicht, dass die klassischen SPSen komplett verschwinden. Es wird immer Zyklen von Lokalisierung und Zentralisierung geben. Das ist auch in der IT seit 30 Jahren so. In der Automatisierungstechnik hat man die IT zugunsten der Elektronik aber lange Zeit vernachlässigt. Deswegen findet mittlerweile ein Aufholprozess statt, denn schließlich lässt sich Software flexibler gestalten und schneller verändern als Hardware. Damit die IT sich weiter in die Automatisierungstechnik hineinentwickeln kann, sorgen hocheffizient betriebene Rechenzentren und entsprechende Cloud-Lösungen dabei für die nötige Basis.

Kircher: Dieser Wandel wird m.E. aber über mehrere Generationen Einzug im Maschinenbau halten. Bei allen Vorteilen der zentralen Daten- und Tool-Verwaltung braucht der Markt dennoch eine Weile, bis er flächendeckend reif für die Cloud ist.

Herr Kretschmer, welche Schlüsse haben Sie als Koordinator aus dem Projekt gezogen und wie geht es am ISW weiter, wenn Picasso zum Ende des Jahres ausgelaufen ist?

Kretschmer: Ich bin der Überzeugung, dass die Stoßrichtung des Projektes sowie technische Umsetzung der Demonstratoren revolutionär sind. Das zeigt sich allein aus dem Feedback und der Akzeptanz, die wird über die Zeit erhalten haben. Stand man dem Projekt am Anfang noch skeptisch gegenüber, kann es heute gefühlt gar nicht mehr schnell genug in die Cloud gehen. Ob es um die Verarbeitung von Daten geht, oder die Verlagerung von Logikfunktionen – der jeweilige Fokus hängt natürlich von den Bedürfnissen des einzelnen Anwenders ab. Übergreifend hat das Forschungsprojekt Picasso aber gezeigt, dass die Steuerungstechnik in der Cloud angekommen ist und welcher Mehrwert möglich ist.

Wie geht es bei Bosch als Projektpartner weiter, Herr Kircher?

Kircher: Bosch ist inzwischen auch mit einer eigenen industriellen Cloud-Lösung aktiv geworden und werden uns weiterhin Gedanken machen, wie wir diese als Industrie-4.0-Plattform in der Fertigung nutzen können. Dabei ist in erster Linie die Auswertung der erfassten Daten wichtig, denn im Bosch-Verbund geht es schließlich um 250 Werke weltweit und insgesamt mehr als 100.000 Maschinen. Da gibt es noch einiges zu tun.

Herr Holz, in wie weit sind die im Projekt erworbene Erfahrung und Kompetenz für Sotec Teil des Geschäfts?

Holz: Darin liegt ganz klar der Kern unseres heutigen und zukünftigen Geschäfts. Wir setzen jetzt schon für Kunden im Maschinen- und Anlagenbau Entwicklungsprojekte um und realisieren Cloud-Anbindungen. Hier geht es meist noch einseitig darum, wie der Kunde Daten erfassen, große Informationsmengen auswerten und Cloud-basiertes MES betreiben kann. Es gibt aber überlappend zu Picasso auch schon Folgeprojekte, mit Fragestellungen, wie man eine Zwischenschicht einführen und so eine Steuerungsplattform in verschiedenen Clouds betreiben kann. Der Weg in die Cloud geht für uns also sehr konkret weiter.


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