Interview mit Philip W. Harting und Uwe Gräff

Interview mit Philip W. Harting und Uwe Gräff

„Uns muss
niemand von der smarten Fabrik überzeugen“

Im Unternehmen Harting wurde kürzlich der Staffelstab übergeben und die dritte Generation übernimmt das Steuer im Traditionsunternehmen Harting. Welcher Weg wird nun eingeschlagen und führt dieser in Richtung Industrie 4.0 und der smarten Fabrik? Philip W. Harting, Geschäftsführender Gesellschafter, und Uwe Gräff, Managing Director, geben Auskunft im SPS-MAGAZIN.

Industrie 4.0 benötigt neue Lösungen für Hardware, Software und Systemdesign. Harting sieht insbesondere steigenden Bedarf an dezentralen Lösungen für Aufgaben im Feld – von der Erfassung von Sensordaten, der Orchestrierung von SPS System bis zur Kommunikation mit zentralen IT Systemen und der Cloud. Mit Mica (Modular Industry Computing Architecture) bietet das Unternehmen eine modulare Plattform aus offener Hard- und Software, die schnell und kostengünstig an viele industrielle Anwendungsbereiche angepasst werden kann. Die Plattform besteht aus einem kompakten und robusten IPC, getestet nach EN50155 und anderen Industrie- und Bahnnormen. Darauf ist das Linux-basierte Virtual Industrial Computing aufgesetzt. Es ermöglicht es, Anwendungen auf Feldgeräten zu virtualisieren, ohne den Overhead klassischer Virtualisierung. Alle Anwendungen laufen in Sandboxen in virtuellen Containern, die alle notwendigen Bibliotheken und Treiber für die jeweilige Anwendung enthalten. Dadurch gehören Paketabhängigkeiten und Inkompatibilitäten der Vergangenheit an. Durch diese Kombination sieht der Anbieter in Mica mehr als ein industrietaugliches Äquivalent zur einem Raspberry Pi oder einem Beagle Bone. Mica bietet eine komplette Infrastruktur, um rasch Intelligenz in existierende Fertigungssysteme einzubauen, Daten zu sammeln oder kleine und mittlere Industrie-4.0-Projekte und Proof of Concepts schnell, kostengünstig, und zukunftssicher umzusetzen.

SPS-MAGAZIN: Herr Harting, der Staffelstab ist symbolisch übergeben – von der zweiten an die dritte Generation. Sie und Ihre Schwester sind federführend im Unternehmen tätig. Was bedeutet das für die Zukunft des Familienunternehmens? Weichen Ihre Pläne von denen Ihrer Eltern ab?

Philip W. Harting: Nein, bei uns wird kein neuer Weg eingeschlagen. Harting steht weiterhin für Kontinuität – in der Führung, in den Zielen und in der Strategie. Diesen Anspruch haben wir generationsübergreifend erarbeitet und daran wird die Staffelstabübergabe nichts ändern. Das ist ein wichtiges Signal, für die Kunden genauso wie für die eigenen Mitarbeiter. Wir wissen, wo wir hinwollen. Der Generationswechsel ist ein natürlicher Bestandteil unseres Weges – mein Vater ist jetzt Mitte siebzig – und kam also in keinster Weise überraschend.

SPS-MAGAZIN: Der Schritt war also von langer Hand geplant?

Harting: Genau. Harting folgt weiter seiner Vision. Zudem sind meine Eltern ja auch beide noch aktiv im Unternehmen. Sie sind nach wie vor Gesellschafter und Harting ist nach wie vor ein großer Teil ihres Lebensinhalts. Auch hier zeigt sich unsere Strategie der Kontinuität.

SPS-MAGAZIN: Mit der Kontinuität in der Branche sieht es hingegen anders aus: Industrie 4.0 bringt einen technologischen Wendepunkt, der die Kundenanforderungen verändern wird. Erfordert das nicht auch ein unternehmerisches Umdenken?

Harting: Wir sind den aktuellen Entwicklungen mit unserem Ansatz Automation IT bereits früh gefolgt und zeigen seit rund zehn Jahren Lösungen für das Zusammenwachsen von Produktion und IT. Entsprechend muss uns niemand mehr von der smarten Fabrik überzeugen. Ganz im Gegenteil: Wir sammeln auf diesem Gebiet bereits eifrig Referenzen und Testbeds, mit Applikationen, die auch Alternativen zur klassischen Automatisierungspyramide umfassen.

Uwe Gräff: In der Kombination von IT und Automatisierungstechnik liegen eine Vielzahl neuer Möglichkeiten und großer Nutzen Das bedeutet nicht, dass die klassische Automatisierungspyramide komplett obsolet wird. Aber bestimmte Schritte in die technologische Zukunft lassen sich eben auch nicht auf dem bisherigen Weg gehen. Unsere Konzepte von Automation IT ergänzen den klassische Lösungen in Richtung Digitalisierung, Big Data, Condition Monitoring oder Service. Bei solchen Themen muss sich der Anwender fragen: Wo werden sie in der smarten Fabrik gelöst? Ist das noch traditionell in der SPS, oder macht eine andere Stelle mehr Sinn? Dann bieten z.B. die dezentrale Automatisierungslösung Mica oder unsere Auto-ID-Lösungen einen Wechsel der Perspektive. Sie lösen Herausforderungen, die schon eine gewisse Änderung der automatisierungstechnischen Fahrtrichtung beinhalten. Dabei liefern wir dem Kunden konkreten Nutzen, den er heute bereits umsetzen kann, anstatt von einer großen, nicht greifbaren Zukunftsvision zu sprechen.

SPS-MAGAZIN: Gibt es Felder abseits der klassischen Harting-Ausrichtung auf Konnektivität und Kommunikation, die Sie hier ansprechen?

Harting: Betrachtet man das Portfolio von Harting, dann sieht man, dass es über die vergangenen Jahre schon deutlich breiter geworden ist. Aber wir wären in den Zukunftsthemen noch nicht so weit, wenn Harting nicht auch seit 20 Jahren sein eigener Maschinenbauer wäre. Der Unternehmensbereich Applied Technologies konstruiert und baut unsere Maschinen, mit denen wir unsere Produktion verbessern und wettbewerbsfähig halten. Entsprechend sammeln wir Erfahrungen nicht nur bei Kundenprojekten, sondern auch bei unseren eigenen Anlagen.

Gräff: Wir nutzen neue Technologien und Lösungen also genauso, wie unsere Kunden. Deswegen kennen wir deren Bedürfnisse und Anforderungen ganz genau: von der Entwicklung über die Logistik und Produktion bis hin zu Vertrieb und After-Sales-Service.

SPS-MAGAZIN: Harting ist also auch Anwender seiner eigenen Lösungen?

Harting: Richtig. Wir leben AutomationIT bzw. Industrie 4.0 in unseren eigenen Fabriken. Wir prüfen andauernd, wie wir die eigenen Prozesse verbessern können und effizienter werden. Genau darüber reden man ja auch bei Industrie 4.0. Das Ergebnis unser Bemühungen haben wir auf der SPS IPC Drives 2015 mit einer komplett durchgängigen Musteranlage präsentiert – durchgängig vom Online-Auftrag im ERP-System bis zur individuellen Einzelfertigung. Diese Anlage zeigt das gesamte Kompetenzspektrum von Harting.

Gräff: Es ist für den Erfolg der Vision Industrie 4.0 dringend notwendig, dass man aus identifizierten Technologietrends praktische Konzepte und Lösungen ableitet und realisiert. Es hilft niemandem, nur in der Theorie zu bleiben. Erst wenn man neue Technologie in Technik umgesetzt hat, erkennt man den wirklichen Nutzen und kann eventuelle Schwachstellen identifizieren. Erst dann sieht man auch das Verbesserungspotenzial für den nächsten Schritt in Richtung Zukunft. Diese agile Vorgehensweise ist der richtige Weg zur Smart Factory.

SPS-MAGAZIN: Und die neue Mica-Lösung ist ein Schritt auf diesem Weg?

Gräff: Mica kristallisiert sich hier als ein Produkt heraus und übernimmt eine wichtige Funktion. Dem entsprechend ist Mica natürlich nicht durch Zufall entstanden. Es ist ein Konzept für dezentrale Knotenpunkte in einer funktionsvernetzten Automatisierungsumgebung, das Daten im Shop Floor sammelt und als Bindeglied zur ERP-Welt und anderen übergeordneten Systemen dient. (mby)n