Das Potenzial im digitalen Zwilling

Produktlebenszyklus neu denken

Bei der Fertigung von Bauteilen gibt es häufig Abweichungen, die noch innerhalb der Spezifikation liegen, die aber dennoch die Stabilität und Zuverlässigkeit des Endprodukts negativ beeinflussen können. Über den digitalen Zwilling können solche Toleranzen während der Fertigung registriert und dokumentiert werden. Ist das Werkstück oder Produkt entsprechend modelliert, können potenzielle Auswirkungen auf Leistung und Lebensdauer automatisch simuliert und analysiert werden. Aus den Analysen lassen sich zudem Gruppen ähnlicher Abweichungen erkennen und zusammenfassen. Stellt die Analyse etwa fest, dass ein Zylinderkopf, der um wenige Mikrometer von dem im CAD abgebildeten Idealfall abweicht, im Motor bei Volllast einen höheren Verschleiß verursacht, kann sie diese Information an den realen PKW übermitteln. Über den digitalen Regelkreis kann der betroffene Motor dann automatisch bei etwa 95 Prozent Leistung abgeregelt werden. Der Nutzer bemerkt davon kaum etwas, das Aggregat seines Autos lebt aber dadurch deutlich länger.

Ein weiteres Einsatzgebiet ist die vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance). Erkennt der digitale Zwilling, dass eine Komponente, beispielsweise die Wasserpumpe eines LKW, kurz vor dem Ausfall steht, alarmiert er nicht nur sein physikalisches Gegenstück, sondern ordert zugleich das Ersatzteil und vereinbart einen Austauschtermin in der Werkstatt. So lassen sich Stillstandzeiten reduzieren und die Kosteneffizienz verbessern. Aber nicht nur Bauteile, Maschinen oder Fahrzeuge können durch einen digitalen Zwilling repräsentiert werden, gesamte Produktionsanlagen sind als virtuelles Abbild modellierbar. Es erfasst neben Maschinen und Werkzeugen die Abläufe und dynamische Wechselwirkungen, die im Fertigungsprozess auftreten. Unternehmen können somit Herstellungsprozesse im virtuellen Abbild analysieren und Änderungen auf ihre Auswirkungen testen, bevor sie in den Realbetrieb gehen. Umgekehrt fließen Veränderungen der realen Produktionsumgebung in den digitalen Zwilling ein. Droht beispielsweise eine Maschine auszufallen, benachrichtigt sie automatisch benachbarte Anlagen, die ihrerseits automatisch die Produktion drosseln oder umplanen können. So lässt sich der Ausfall unter Umständen hinauszögern, bis eine Ersatzmaschine einsatzbereit ist. Auch dies kann autonom und automatisch über den digitalen Zwilling geschehen. Schließlich ist der Einsatz virtueller Abbilder nicht auf die Optimierung bestehender Geschäftsmodelle beschränkt. Unternehmen wie der Flugtriebwerkhersteller Rolls Royce, der statt Triebwerken ‚Jet Propulsion as a Service‘ verkauft, oder der Kompressorenspezialist Kaeser mit ‚Druckluft as a Service‘ sind zwei Beispiele für dieses Geschäft. Auch neue Garantie- oder Versicherungsmodelle sind möglich. So wäre etwa bei einem Gebrauchtwagen die bisherige Nutzung über den digitalen Zwilling lückenlos dokumentierbar. Ein Händler könnte auf Basis dieser Daten und der daraus abzuleitenden Prognosen eine bestimmte zukünftige Laufleistung garantieren oder zusätzliche nutzungsabhängige Leistungspakete anbieten.

Schluss mit Einbahnstraßen

Der digitale Zwilling dürfte künftig eine weit größere Rolle in der vernetzten digitalen Welt einnehmen. Voraussetzung für seinen Erfolg ist allerdings ein intensiver barrierefreier Datenaustausch nicht nur zwischen Zwilling und realem Abbild, sondern auch zwischen Unternehmen, Kunden und den Maschinen selbst. Dazu ist es nötig, Silodenken aufzubrechen, das gerade in Automobilkonzernen heute noch weit verbreitet ist. Der Datentransfer darf keine Einbahnstraße sein. Endkunde oder Nutzer, OEM und Zulieferer verschiedener Tiers müssen Daten beisteuern, aber auch erhalten, um das volle Potenzial des digitalen Zwillings zu heben und bessere Produkte herstellen zu können.

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